Last updated: 17.05.2003
Rackern im Dunkeln



Nacktmulle sind die häßlichsten Nagetiere der Welt. Biologen haben ihr hartes Leben erforscht. Ihr Leben verbringen sie unter Tage. Versklavt von einer despotischen Königin, müssen sie kilometerlange, verzweigte Tunnel buddeln, die Brut der Herrscherin beaufsichtigen oder Freßfeinde abwehren. Und das bei 30 Grad Celsius und stickiger Luft. Wer aufmuckt, wird bestraft. Die Tyrannin verhindert zwischen ihren Untertanen sogar den Sex. Die seltsamen Geschöpfe, die eingegraben im Savannenboden Ostaftikas ein solch freudloses Dasein fristen, heißen Nacktmulle und gelten als die häßlichsten Säugetiere der Welt Sie sind haarlos, fast blind, haben eine rosafarbene Schrumpelhaut und sehen aus wie Penisse auf Beinen. Von allen übrigen Säugetieren unterscheiden sich die Nager durch ihr bizarres Sozialverhalten, das man eigentlich nur von Insekten wie Ameisen oder Bienen kennt: mit einer Diktatorin an der Spitze und vielen hochspezialisierten Arbeitern. Zu den Insektenstaaten gibt es noch eine weitere Parallele: Die aus bis zu 300 Tieren bestehenden Nacktmull-Kolonien sind streng voneinander isoliert, es herrscht extreme Inzucht. Verirren sich Naclttmulle in das Tunnellabyrinth einer benachbarten Siedlung, werden sie vertrieben. Fremde sind nicht willkommen. Bislang war es für die Biologen unerklärlich, wie solche abgeschotteten Gemeinschaften ohne Zufiihr frischen Blutes lange Zeit überleben konnten. Ein Rätsel war auch, wie neue Kolonien entstehen. Der südafrikanische Verhaltensforscher Justin O'Riain hat jetzt offenbar die Lösung geflinden. Der Biologe ließ eingefangene Nacktmulle in künstlichen, aus Plexiglasröhren zusammengesetzten Bauten umherkriechen. Dabei beobachtete er, wie einige wenige Männchen versuchten, aus der Kolonie zu fliehen. Das war kein Zufall: Noch untypischer verhielten sich diese Sonderlinge, als sie im Experiment mit Weibchen der eigenen und einer fremden Kolonie zusammengebracht wurden. ,,Eifrig bemühten sie sich, mit den Ausländerinnen zu kopulieren", berichtet O'Riain im Fachblatt Nature. Schlußfolgerung des Zoologen: Die Außenseiter gehen als Kolonisten auf Wanderschaft. Sie schleichen sich in fremde Siedlungen ein oder gründen mit anderen Vagabunden neue Siedlungen. Für die beschwerliche Reise fressen sie sich eigens ein Fettpolster an. Die jüngste Entdeckung fügt sich nahtlos in das Bild, das sich die Biologen mittlerweile vom harten Leben der nackten Nager gemacht haben. Vor allem die südafrikanische Verhaltensforscherin Jennifer Jarvis und ihr US-Kollege Paul Sherman haben in den letzten Jahren aufgedeckt, wie streng die Rollenverteilung bei den Nacktmullen geregelt ist. Am besten dran sind noch jene kräftig gewachsenen Männchen, die von der Patriarchin als Gemahle auserwählt werden. Diese zwei, drei Prachtkerle haben die vergnügliche Pflicht, sich mit der Königin zu paaren, dem einzig fruchtbaren Weibchen der Kolonie. Jedes Jahr bringt sie rund 60 Junge zur Welt. Die Liebesdienste fordern das ganze Männchen: Sobald sich die Haremsburschen sexuell betätigen, bauen sie körperlich rapide ab. Dafür sind sie  

aber von anstrengenden Wühlarbeiten entbunden. Ein relativ ruhiges Leben führen auch die Soldaten. Zwar müssen sie sich todesmutig Schlangen entgegenwerfen, die gelegentlich in die Stollen eindringen. Bis ihre Kameraden das Loch im Tunnel verschlossen haben, landen einige von ihnen im Magen des Reptils. Doch von solchen Scharmützeln abgesehen, liegen die Soldaten meist nur dösend im Nest, um ihre Kräfte für den nächsten Kampf zu schonen. Alle anderen, ob Männchen oder Weibchen, müssen fortwährend schuften. Schon im Alter von zwei Monaten werden die Jungtiere für leichtere Verrichtungen eingeteilt. Sie putzen die Wohnhöhlen (vor allem die Toilettenecken) und halten die Gänge frei von Geröll. Sobald sie alt genug sind, kommen sie in die Baukolonnen. Der Tunnelbau dient der ständigen Suche nach Knollen und Wurzeln, die weit verstreut im Savannenboden wachsen. Nur als Nebenprodukt der Futterbeschaflüng entstehen die vielfach verzweigten Baue von gewaltiger Ausdehnung; manche der unterirdischen Wegenetze haben die Fläche von zehn Fußballfeldern. Gegraben wird in Arbeitsbrigaden. Das vorderste Tier bricht mit seinen mächtigen Schneidezähnen, die sogar Beton durchlöchern können, harte Erdbrocken aus der Wand heraus. Hinter ihm steht eine Kolonne bereit, das angehäufte Material nach Art eines lebenden Förderbandes fortzuschaffen. Freiwillig würde sich kaum ein Nacktmull so abrackern. Die Nager faulenzen, wann immer sie können. Ohne die harte Hand ihrer Herrscherin, so glauben die Verhaltensforscher, würden die arbeitsscheuen Tiere während der Trockenzeiten verhungern. Um die Untertanen anzutreiben, unternimmt die Königin laufend Patrouillengänge durch ihr finsteres Reich. Wer nicht fleißig wühlt, wird von ihr angefaucht, herumgeschubst oder gebissen. Derart angestachelt, strengt sich ein bequemer Nacktmull, wie die Zoologen feststellten, gleich doppelt an. Den Weibchen ihrer Kolonie macht die Königin noch aus einem zweiten Grund das Leben schwer: Immer lebt sie in der Furcht, daß eine mögliche Rivalin paarungsbereit werden könnte. Während ihrer Kontrollgänge schnüffelt die Herrscherin deshalb am Urin der an deren Weibchen und überprüft so deren Östrogenspiegel. Ist eine von ihnen im Begriff, in die Brunst zu kommen, rempelt die Königin sie brutal an durch den Streß vergeht der Konkurrentin, wie die Forscher mutmaßen, die Lust. Erst als die Despotin, so ein Laborversuch, nach zwölf Jahren starb, erwachten die Weibchen binnen kurzer Zeit aus ihrem sexuellen Dauerschlaf. In einem anderen Experiment hat der britische Verhaltensforscher Christopher Faulkes aus einem Plastikbau die Königin entfernt und beobachtet, was dann geschah. Die übrigen Weibchen nahmen aufeinmal an Gewicht zu, sie wurden aggressiver, ihre Zitzen wuchsen. Wie Furien stachen sie mit ihren scharfen Schneidezähnen aufeinander ein, etliche kamen um. Viele Monate dauerte der mörderische Thronfolgekrieg. Dann begann eine neue Monarchin, ihr Volk zu drangsalieren.
26.05.1996

Aus dem "SPIEGEL"